Vom Anfang des Regenbogens
Dieser Text wird ein sehr persönlicher Text werden. Ein Text, von dem manch einer behaupten wird, er sei unnötig. Aber das ist er nicht. Das habe ich in vielen Situationen in meinem Leben und im Leben von Menschen, die mir wichtig sind, erfahren.
In diesem Text geht es um Homosexualität.
Ich bin in einer Kleinstadt in Oberschwaben aufgewachsen. Hier wählt man CDU, fährt ein deutsches Auto und besitzt einen Schrebergarten. So klein ist die Stadt eigentlich gar nicht, immerhin die größte im Landkreis. Aber hier wohnen nur 10.000 Menschen. Zwei mal in der Woche ist Markt auf dem großen Platz vor der Kirche, mittwochs und samstags. Gemüse kauften wir früher immer bei „Ali“, wobei ich bis heute nicht weiß, ob er wirklich „Ali“ hieß oder ob ihn alle nur so nannten.
Es gab in meiner Kindheit einige Dinge, die man machte, weil man sie halt so machte. Die Kinder taufen lassen, sie zur Kommunion schicken und später dann zur Firmung. An Weihnachten und Ostern ging man in die Kirche. Als Kinder liefen wir beim Bächtlefest-Umzug mit, einem Umzug der die historische Geschichte der Stadt erzählt – und ein bisschen etwas darüber hinaus. Zumindest glaube ich nicht, dass es in meiner Heimat jemals wirklich Elfen gab.
Und dann gab es da sehr viele Dinge, die man nicht machte. Man mähte den Rasen nicht am Samstag zur Mittagsruhe. Und wenn doch, erntete man giftige Blicke der Nachbarn, die gerade im Blumenbeet hockten und versuchten möglichst geräuscharm die Ackerwinde aus dem Rosenstock zu entfernen. Man fuhr in der Dreißiger-Zone nie schneller als 25. Man sprach nur schlecht über die Nachbarn wenn das Küchenfenster geschlossen war und selbst dann nur im Flüsterton. Man ging nicht auf den Spielplatz, wenn die russischen Jungs aus der Siedlung dort kickten. Vor denen hatte man Respekt. Und man ging als man älter wurde auch nicht auf Demonstrationen – weil sie schlicht nie stattfanden. Man fiel am besten nicht weiter auf. Dass mein bester Freund damals ein Junge war, fanden sogar meine Eltern zeitweise befremdlich. Jungen und Mädchen einfach befreundet? Naja, ihr kennt die Antwort.
So kommt es, dass ich mich bis heute an drei Personen erinnere, die sich in irgendeiner Art und Weise nicht an das ungeschriebene Gesetz des spießbürgerlichen Nichtauffallens hielten. In meiner Kindheit war da der Stadtpfarrer. Der sorgte für lautstarkes Grummeln in der Gemeinde, als er sich im Ferienprogramm der Kinder ausgerechnet als Räuber Hotzenplotz verkleidete. Ein Mann Gottes als Bösewicht? Das ging doch eigentlich nicht. Später gab es ein paar Jahre lang den „Stadtnazi“. Der trug immer khakifarbene Hosen und schwarze Springerstiefel. Ob er wirklich ein Rechtsextremer war, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich war damals zu klein, um mir mehr Gedanken über ihn zu machen. Wir hatten einfach Angst. Und dann gab es da noch den „Stadtindianer“. Er trug die Haare lang und offen, zahlreiche Ketten um Hals und Hände, niemals Schuhe und eine ärmellose Jeansweste, die er nur auszog, wenn es wirklich heiß wurde. Angst hatten wir vor ihm nicht. Aber er war regelmäßig Gesprächsthema. Etwa, wenn er auf ein paar Wochenmärkten einmal nicht gesichtet worden war. Wenn ich mich richtig erinnere, erschien, als er starb, sogar ein Artikel über ihn in der Tageszeitung.
Ich erzähle das, damit ihr versteht, in welch beschaulichen Umfeld ich groß geworden bin. Man tat einfach nichts, was die anderen nicht auch tun würden. Und man kannte auch nicht viel anderes. Klar, in den Ferien ging es an die Adria oder nach Südfrankreich ans Mittelmeer oder an die Nordsee. Aber von anderen Lebensmodellen keine Spur. Vater, Mutter, Kinder. Mindestens zwei Kinder. Am besten fünf. Eine Scheidung war Gesprächsthema auf dem Markt. Ich glaube bis heute, dass es in meiner Heimatstadt keine Schwulen gibt. Oder Lesben. Oder Transsexuelle. Oder Asexuelle. Mir ist inzwischen bewusst, dass das Quatsch ist. Aber in meiner Erinnerung gibt es nur heterosexuelle Paare, die Kinder und ein Haus haben. Den ersten Homosexuellen aus meiner Heimat erkannte ich erst als ich woanders wohnte.
Nach dem Abitur zog ich weg. Ich konnte es kaum erwarten, endlich rauszukommen aus dieser kleinen schwäbischen Blase, derer ich mir damals noch nicht bewusst war. Ich studierte Französisch an der Uni. Von drei Männern in meinem Studiengang war einer schwul, der andere noch nicht geoutet und der dritte hatte eine Freundin. Ich sah das Klischee bestätigt, das ich in der siebten Klasse kennen gelernt hatte. Wir mussten uns damals entscheiden, welche zweite Fremdsprache wir weiterlernen wollten: Latein oder Französisch? Ich entschied mich für Französisch, meine beste Freundin für Latein. Auf dem Heimweg sagte sie dann: „Das ist doch eine Schwuchtelsprache.“ Ich war beleidigt. Ich wusste zwar nicht, was das war, ein/e Schwuchtel, aber es klang fies. Ich studierte also die Schwuchtelsprache zusammen mit zwei Schwulen. Ich ging auf Homoparties, dabei war ich außer einem betrunkenen Kuss mit einer Klassenkameradin in der Disko diesbezüglich bis dahin nie auf Tuchfühlung gegangen. Und es interessierte mich nicht die Bohne.
Wie viel sich dadurch veränderte, merkte ich erst, als ich meinem besten Freund zuhause von den Parties und neuen Bekanntschaften erzählte, von meinen Kommilitonen und davon, wie herrlich offen alle in meiner neuen Stadt sind. Benjamin studierte zu der Zeit in Ravensburg und arbeitete im Supermarkt in unserer Heimatstadt. Er hörte interessiert zu. Als ich im ersten Jahr für Weihnachten nach Hause fuhr, outete sich ein uns sehr nahe stehender Freund, nennen wir ihn Max, als schwul. Meine Reaktion: „Na und?“ Ich kam mir schon richtig toll vor, so entspannt zu reagieren. Im Gespräch zuvor hatte eine gemeinsame Freundin noch von einem Kommilitonen erzählt, der „so richtig tuntig“ sei. Alle hatten wissend gelacht. Und dann kam das Outing.
Der Winter ging ins Land, der Frühling auch und irgendwann kündigte mir Benjamin seinen Besuch in meiner kleinen Studentenbude an. „Ich muss dir was sagen“, sagte er am Telefon. „Ich komme dich besuchen.“ Zwei Wochen später holte ich ihn am Zug ab. Er wirkte nervös. Wir gingen Pizza essen, kochten zuhause, spazierten durch die wunderschöne Altstadt und entspannten in der Frühsommersonne an der Donau. Irgendwann rückte er mit der Sprache raus. „Ich habe mich lange nicht getraut“, beichtete er. „Aber Max‘ Outing hat mir Mut gemacht.“ Erwartungsvoll sah er mich an. „Ich bin schwul.“
Kurze Zeit später schickte er mir ein Foto von einem blassen, blonden Mann. Per ICQ. Das benutzten wir damals noch.
„Das ist Chris“, erklärte er. „Ich hab ihn im Internet kennen gelernt.“
- Der sieht nett aus, sagte ich. Trefft ihr euch mal?
„Bisher telefonieren wir nur. Er ist soooo nett!“
Telefonieren war dann aber, ihr könnt es euch denken, irgendwann nicht mehr genug. Eines Nachmittags, ich saß an meinem Schreibtisch und fuhr den Laptop hoch: „Ah, oh!“ ICQ meldete sich.
„Annaaaaaaaaaaa!“
- Ja?
„Er ist jetzt hier!“
- Wer ist hier?
„Chris ist hier! Ich bin soooooo aufgeregt!“
- Vielleicht solltest du dich dann lieber um deinen Besuch kümmern, als mit mir zu chatten?
Seit elf Jahren wohne ich nicht mehr zuhause. Durch mein Studium landete ich zwangsläufig immer in größeren Städten in Deutschland und Frankreich. Sexualität war dort nie Thema. Das war es in meiner Heimatstadt zwar auch nicht, aber das war ein bewusstes Tabuisieren. In meinen Studienstädten war es schlicht deshalb nicht Thema, weil es niemanden interessiert hat, mit wem du schläfst und ob du auf Männer, Frauen oder beides stehst.
Max und Benjamin haben aber in ihrer kritischen Jugendphase nie erfahren, dass Schwulsein ganz normal ist. Es ist nichts besonderes, nichts absonderliches und schon gar nichts unnatürliches. Das lernten wir alle aber erst später, als wir nicht mehr wirklich zuhause wohnten.
Benjamin und Chris haben vor Kurzem ihr Zehnjähriges gefeiert. Seit 2017 sind sie verheiratet. Die Hochzeit fand in Frankfurt statt, mit beiden Familien und sehr vielen Freunden, viele davon schwul. Die normalste Sache der Welt, möchte man meinen. Für Benjamin, könnte man sagen, ist alles gut. Er hat einen wundervollen Ehemann, eine schöne Wohnung mitten in Frankfurt und eine zuckersüße kleine Hündin.
Das reicht ihm nicht. Er will, dass es anderen Jugendlichen nicht so geht wie ihm. Er will, dass das Thema Homosexualität dort präsent ist, wo es am heikelsten ist: Im Sport. Er will nicht, dass andere junge Männer in Fußballvereinen über Schwulenwitze lachen müssen, um dazuzugehören. Er will nicht, dass schlechte Pässe als „schwul“ bezeichnet werden. Und er will nicht, dass nach dem Anstoßen mit Bier nach dem Spiel irgendeiner sagt: „Absetzen, sonst gibt es schwule Kinder.“ Als wäre das etwas Schlimmes.
Benjamin hat eine Kampagne gestartet, mit dem Namen „Doppelpass“ (hier geht es zur Seite auf Facebook). Mit Bundesligisten zusammen will er Aktionstage im Stadion veranstalten. Er will Trainer und Vereinsverantwortliche in Workshops zu mehr Sensibilität anhalten. Er will mit den Fans zusammenarbeiten. Das Thema soll nicht länger nach dem Prinzip „Don’t ask, don’t tell“ tabuisiert werden. Jeder sollte offen dazu stehen können, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Von Ausgrenzung in der Amateurmannschaft bis zur abgesagten Vertragsverlängerung im Profifußball. Ich finde, er verdient jede Unterstützung.
@3ensta (Instagram)
Dieter Mayer 27. November 2019 - 14:34
Liebe Anna, hast Du schön geschrieben. In der Nordbadischen Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es keine Schwulen – zumindest keine geouteten. In der Schule,
in der DLRG gab es auch diese unsäglichen Verunglimpfungen für schwul sein.
Ich finde die Ausgrenzung gerade in Sportvereinen, kirchlichen Organisationen, politischen Parteien für verabscheuungswürdig. Liebe Grüße, Dieter