Kernkraftwerk Biblis: Millionen für die Energiewende
Wir schreiben das Jahr 2011. Es ist März. In Deutschland steht der Frühling vor der Tür. Eiscafés räumen Tische und Stühle auf die Straßen, die ersten Forsythien blühen vorsichtig. Dann die Katastrophe in Asien. Ein Erdbeben vor der japanischen Küste sorgt für einen Tsunami. Die ersten Wellen erreichen auch das Kernkraftwerk Fukushima in Ōkuma. In den Reaktoren 1-3 kommt es zum Ausfall der Kühlungssysteme durch beschädigte Rohre. Bis zu 150.000 Japaner müssen die Region vorübergehend verlassen, da radioaktives Material freigesetzt wird.
Der deutschen Politik steht der kalte Schweiß auf der Stirn. Wenige Monate zuvor hatte man eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in der Bundesrepublik beschlossen. Bereits fünf Tage nach dem Erdbeben in Japan verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel am 14. März, dass alle 17 Atommeiler Deutschlands für drei Monate einer Sicherheitsprüfung unterzogen werden sollten. Kurz darauf beschlossen Bundestag und Bundesrat mit deutlicher Mehrheit, dass die sieben ältesten Atommeiler ganz abgeschaltet werden sollten (Atom-Moratorium). Alle anderen Kernkraftwerke sollten bis spätestens 2022 vom Netz gehen. Die Umsetzung lag bei den Bundesländern, in denen diese Kraftwerke stehen.
Dieses Atom-Moratorium fliegt dem Land Hessen nun um die Ohren. Denn auch das Kernkraftwerk Biblis gehörte zu den Atommeilern, die sofort stillgelegt wurden. Biblis-Betreiber RWE fordert 235 Millionen Euro Schadenersatz für die stillgelegten Blöcke. Doch nun will keiner verantwortlich sein. Das Bundesland Hessen und der Bund versuchen sich gegenseitig die Haftung zuzuschreiben. Zahlen will keiner. Die schwarz-grüne Koalition in Hessen kriselt erstmals.
Die Hintergründe
Die hessischen Oppositionsparteien SPD und Link wittern geheime Absprachen zwischen den Kernkraft-Konzernen und der Politik. Fast sicher scheint inzwischen: Im März 2011 sollte vor allem ein politischer Wille durchgedrückt werden – nicht ganz unwichtig dabei: die Landtagswahlen Ende März in Baden-Württemberg.
Problematisch: Diese politischen Wünsche waren rechtlich nur schwer gegenüber den Kraftwerksbetreibern abzusichern. Die rechtliche Verantwortung wurde von CDU, Umweltministerium, Land und Bund delegiert. Dadurch will heute niemand für die Entscheidung haften. Bund und Hessen schieben sich die Verantwortlichkeiten zu.
Der Konflikt heute
Der Untersuchungsausschuss zum Atom-Moratorium und Biblis im hessischen Landtag hat zumindest schon eines zu Tage gefördert: Ministerpräsident Volker Bouffier soll in einem Brief an RWE die Schadenersatzansprüche des Unternehmens gestärkt haben. Klar ist: Bund und Länder entschieden in Windeseile gegen die Atomkraft in Deutschland. Expertenmeinungen blieben laut Untersuchungsausschuss oft ungehört, bzw. wurden nicht bei der endgültigen Entscheidungsfindung berücksichtigt.
Der Bund ist der Meinung, die Verantwortung durch die Formulierungen im Moratorium in die Hände der Länder gelegt zu haben, in den Atom-Meiler stehen. Die Länder – bzw. in diesem Fall das Bundesland Hessen – sind sich sicher, auf Weisung des Bundesumweltministeriums, sprich des Bundes, gehandelt zu haben. Daher sehen sie die Haftung beim Bund.
Es ist schwer zu klären, was genau bei den vielen, hektischen Sitzungen in Berlin zwischen Ministerpräsidenten, Bundesumweltministerium, Kanzleramt und den Landesumweltministerien besprochen wurde, denn Protokolle wurden nicht geführt. Allerdings gibt es da diese Mail von 2012, in der festgehalten ist, dass nach Auskunft des Bundesumweltministeriums der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier eine Zusicherung der Haftungsfreistellung der Länder erhalten habe. Bundeskanzlerin Merkel soll in einer der Sitzungen gar gesagt haben: „Wir lassen die Länder nicht im Regen stehen.“
Heute will im Kanzleramt niemand anerkennen, dass es sich damit um eine rechtlich verbindliche Zusage gehandelt habe, sondern der Satz der Kanzlerin sei lediglich als eine „politische Aussage“ zu bewerten.
Volker Bouffier hat im Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag den Vorwurf zurückgewiesen, er trage wegen seines Briefes an RWE die Verantwortung für die Millionen-Klage gegen das Land. Auch sein Brief habe „politischen Charakter“ gehabt und „keinerlei rechtliche Bindungswirkung“, ließ er durch seinen Regierungssprecher Michael Bußer verlauten.
Zudem habe die Bundesregierung ein einheitliches Vorgehen der Länder beim Atom-Moratorium angestrebt. Immerhin gab der Bund die Entscheidung vor, lieferte rechtliche Begründungen und gab Hinweise für den Verwaltungsvollzug in den Ländern. Diese hätten dadurch keinen eigenen Spielraum mehr gehabt und seien daher auch nicht haftbar zu machen für die Klage, heißt es im hessischen Landtag.
Auch der frühere Bundesumweltminister Norbert Röttgen will keine Verantwortung übernehmen. Er behauptet vor dem Untersuchungsausschuss, die Eigenständigkeit der Länder sei immer klar gewesen.
Ob und wer die 235 Millionen Euro bezahlen wird, bleibt weiter unklar. Der Landtag streitet wieder.