Flüchtlinge: Warum sie kommen und was sie können
Wer da im vergangenen Herbst zu uns nach Deutschland kam, war lange Zeit unklar. Nun gibt es eine erste qualitative Studie zum Zuzug der Flüchtlinge. Die Ergebnisse und ein Fallbeispiel.
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„Nicht jeder Syrer ist ein Arzt“, sagte Andrea Nahles im vergangenen Herbst. Damals standen Zehntausende in der anbrechenden Winterkälte vor den Toren Deutschlands und die Diskussion um den Umgang mit Asylbewerbern war in vollem Gange. Gerade hatte Angela Merkel mit ihrem „Wir schaffen das!“ für Furore gesorgt – dabei konnte die Kanzlerin zum dem Zeitpunkt noch gar nicht wissen, um wen es eigentlich ging. Eine neue Studie gibt nun Aufschluss über die Zusammensetzung der Flüchtlinge, ihre Qualifikationen und die Gründe ihrer Flucht. Das Migrationsamt BAMF, Forschungsinstitut der Arbeitsagentur und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bereiten damit eine größere Erhebung vor, die noch kommen soll. Erstmals geht es tatsächlich um die Geflüchteten, die mit der Einwanderungswelle seit September in Deutschland ankamen.
Asifa (34) sitzt, den Kopf über ihre Bücher gesenkt, an dem kleinen Tisch in der Küche. Sie blickt nur kurz auf, liest konzentriert ihren Absatz zu Ende, notiert ein paar Worte und begrüßt ihre Gäste dann. Asifa lernt Deutsch. Die Syrerin stammt aus Damaskus, ihre letzten Monate in Syrien verbrachte sie in Hama, einer Großstadt im Westen Syriens an der Verbindungsstraße zwischen Aleppo und Damaskus. Bei den Protesten 2011 war Hama eine Hochburg prodemokratischer Demonstranten. In Deutschland kam ihre kleine Familie in einem kleinen schwäbischen Städtchen unter. Deutsch – oder gar Schwäbisch – sprach keiner von ihnen.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung befragte zwischen Dezember und März 123 Geflüchtete und 26 Experten aus der Flüchtlingsarbeit. 2015 wurden 1,1 Millionen Flüchtlinge von den Behörden in Deutschland erfasst. Rund 800.000 von ihnen leben wohl noch in Deutschland. Die Sorgen um eine starke Zunahme der Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität durch mangelnde Betreuung und Unterbeschäftigung, sind groß. Parteien am rechten Rand gewinnen an Zulauf. Die qualitative Befragung belegt erwartbarerweise, dass tatsächlich nicht jeder Flüchtling einen Doktortitel hat. Doch sie zeigt auch: Die Erwerbs- und Bildungsorientierung der Flüchtlinge im Land ist hoch. Dennoch sind die Hürden für ihre Integration hoch.
Warum nach Deutschland?
Die Fluchtursachen sind je nach Herkunftsland sehr verschieden. Während die Befragten aus Syrien, Irak, Pakistan und Afghanistan mehrheitlich angaben, vor den Repressalien verschiedener radikalislamischer Gruppierungen – wie beispielsweise dem sogenannten Islamischen Staat – geflohen zu sein, nannten Flüchtlinge aus den Balkanstaaten vor allem die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und Diskriminierung von Minderheiten als Fluchtgrund.
In ihrer Heimat war das Viertel, in dem Asifa mit ihrer Familie wohnte, jeden Tag unter Beschuss. Als Raketen schließlich das Nachbarhaus zerstörten und Asifas Wagen in die Luft flog, packten sie und ihr Mann Rasin (47) ihre beiden Söhne Azmi (13) und Kemal (8) ein und flohen zu Fuß und mit dem Bus in den Libanon. Zurück ließen sie eine neue Wohnung, ihre Eltern und Geschwister. Auf der Flucht hatten sie dennoch Glück: Ein Bruder von Asifa finanzierte die Familie von Deutschland aus. Er war bereits früher aus Syrien ausgewandert.
Etwa die Hälfte der befragten Flüchtlinge hatte sich Deutschland bereits vor Beginn der Flucht als Zielland ausgesucht. Bis auf wenige Kontingentflüchtlinge gestaltete sich der Weg jedoch meist sehr gefährlich und je nach Herkunftsland und finanzieller Ausstattung auch unterschiedlich lang. Für Deutschland spricht vor allem die Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Sicherheit. So sagte ein befragtes Ehepaar aus Iran: „Uns war klar, dass Deutschland die Menschen schützt und die Menschenrechte hier gelten.“
Auch die hier vermutete Chance auf eine Zukunft lockte einen großen Teil der Flüchtlinge hierher. Eine Befragte aus Syrien sagte hierzu im Interview: „Deutschland hat einen sehr guten Ruf, die Bildungsqualität ist sehr hoch angesehen und auch wenn man später arbeitet, hat man auch eine gute Chance Arbeit zu bekommen.“ Wer auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich eine Chance haben will, muss jedoch bestimmte Qualifikationen vorweisen können – und diese unterscheiden sich von Herkunftsland zu Herkunftsland teils gewaltig.
Was bringen sie mit?
Für die Bildung und Arbeitserfahrung der Asylbewerber ist vor allem die Situation in ihren Herkunftsländern entscheidend. So spielt es eine große Rolle, wie lange gewaltsame Konflikte dort schon toben. Wo bis vor Kurzem der Schulbesuch, ein Studium oder ein regelmäßiger, gesicherter Erwerb möglich waren, fallen die Bildungsbiografien besser aus. Menschen aus Ländern, die aus langjährigen Krisenregionen geflohen sind, stehen im Vergleich wesentlich schlechter da. So lässt sich erklären, dass die meisten Syrer, Iraner und Iraker über eine gute Bildungsbiografie verfügen. Viele haben weiterführende Schulen besucht, einige ein Hochschulstudium begonnen oder abgeschlossen. Neben den häufig genannten Hilfstätigkeiten sprechen die Befragten aber auch von akademischen Arbeiten oder einer Tätigkeit im selbständigen Bereich.
In Hama arbeitete Rasin als angestellter Telekom-Techniker. Asifa hatte bei einem Friseur gearbeitet, konnte es sich aber nach der Geburt ihres ersten Sohnes leisten, zuhause zu bleiben. Gelernt hatte sie nichts. Die Söhne gingen – zumindest bis der Krieg Hama erreichte – ganz normal in die Schule. Azmi und Kemal können beide schreiben und haben auch in Deutschland schnell Anschluss gefunden in der Schule. Azmi dolmetschte schon nach wenigen Wochen für seine Eltern zwischen Helfern und Behörden.
Bei genauerer Betrachtung wird jedoch auch deutlich, dass das Bildungsniveau von ethnischen und religiösen Minderheiten in den jeweiligen Ländern – wie den Jesiden aus Syrien oder den Roma vom Balkan – deutlich geringer ausfällt. Ihnen wurde in ihrer Heimat der Zugang zur Bildung verwehrt oder zumindest nur eingeschränkt ermöglicht. Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan oder auch Eritrea befinden sich hingegen oft schon in zweiter Generation auf der Flucht. Sie haben sich daher schwer getan, eine Bildungsbiografie ohne große Lücken aufzubauen. Die Folgen sind – besonders auch für die Integration in Deutschland – drastisch: Analphabetismus und das Fehlen jeglicher Allgemeinbildung sind weit verbreitet. Insgesamt bestätigen sich in der Studie die Annahmen aus dem Frühjahr, dass eine große Gruppe mit hohem Bildungsabschluss einer ebenso großen Gruppe mit niedrigem oder gar keinem Schulabschluss gegenüber steht.
Trotz aller Schwierigkeiten wollen die meisten der Flüchtlinge vor allem eines: Arbeiten und Geld verdienen. So sagt ein befragtes afghanischen Ehepaar: „In Afghanistan haben wir gearbeitet und selber verdient, das möchten wir auch in Deutschland zukünftig so machen. Erst mal die Sprache lernen, dass wir mit den Leuten sprechen können, kommunizieren können, arbeiten und niemandem zur Last fallen.“ Dass sie zunächst von Transferleistungen der Sozialämter abhängig sind, finden viele der Ankömmlinge gar erniedrigend. Dabei spielt das Geschlecht keine große Rolle: Männer wie Frauen gaben an, die Erwerbsarbeit habe für ihr Leben eine große Bedeutung.
Niemandem zur Last fallen will auch Asifas Familie. In den ersten Monaten in Deutschland waren sie auf die Unterstützung der ehrenamtlichen Helfer im Dorf mehr als nur angewiesen. Durch sehr viel privates Engagement konnten sie sich schon bald auf Deutsch verständlich machen. Asifa fand bald einen Praktikumsplatz in einer nahe gelegenen Bäckerei, im Herbst beginnt ihre Ausbildung zur Hauswirtschafterin. Rasin arbeitet inzwischen bei einer Maschinenbaufirma in der Stadt. Er hat Glück: Vieles, was er in Syrien gelernt hat, kann er auch hier gebrauchen. Seine regelmäßige Arbeit ist ihm sehr wichtig, um nicht mehr von den staatlichen Zahlungen abhängig zu sein.
Auch der Wunsch nach mehr Bildung ist weit verbreitet. Für viele der Asylbewerber war für die Wahl Deutschlands als Zielland das gute (Aus)Bildungssystem sogar einer der Hauptgründe. Jedoch verlagern viele Ältere ihre Bildungsmotivation auf ihre Kinder. Sie selbst fühlen sich häufig zu alt, um noch einmal zu studieren oder eine Schule zu besuchen. Eine große Hürde ist für viele die Sprache. Der Großteil der Flüchtlinge hat keinerlei Deutschkenntnisse. Ihnen ist jedoch auch gemeinsam, dass sie Deutsch als den wichtigsten Schlüssel zu einer Zukunftsperspektive betrachten. Als problematisch werden die langen Wartezeiten bei Sprach- und Integrationskursen bewertet.
Azmi und Kemal gehen auch in Deutschland regulär zur Schule. Kemal besucht bald die dritte Klasse eine städtischen Grundschule. Azmi geht auf die Werkrealschule. Seine Noten sind überdurchschnittlich gut. Trotz anfänglicher Sprachprobleme haben sich die beiden syrischen Jungen gut integriert. Azmi möchte Abitur machen und später studieren. Seine Chancen stehen gut. Zurück nach Syrien wollen Asifa und Rasin nie wieder. Noch heute erschrickt die junge Syrerin, wenn eine Autotür knallt, das Feuerwerk des städtischen Volksfestes konnte sie sich nicht anschauen. Die Angst sitzt tief. Und doch: Auch nach den Anschlägen in Deutschland sieht die Familie ihre Zukunft hier.